"... keine Todesfälle von Einwohnern jüdischen Glaubens"
Der Mord an den Godesberger Juden 1933-1945
Bei der Volkszählung im Mai 1939 registrierten die Zähler in Bad Godesberg 58 "Glaubensjuden" und weitere 25 Personen christlicher Konfessionen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen ebenfalls als "Volljuden" galten.1 Anhand der überlieferten Melderegister und anderer Unterlagen lassen sich die Namen und das weitere Schicksal von 72 der damals erfassten Menschen rekonstruieren.2 Weniger als ein Drittel von ihnen sollte die nächsten Jahre überleben: Mindestens 43 sowie zwei nach 1939 geborene Kinder wurden in die Todeslager im Osten deportiert, wo bis auf eine Person alle umkamen, acht starben eines "natürlichen" Todes, wenn man davon überhaupt angesichts der Verfolgungssituation sprechen kann.3 Überlebt haben von denen, die im Mai 1939 in Bad Godesberg wohnten, nur diejenigen, die noch in ein sicheres Asylland emigrieren konnten oder die wegen einer Ehe mit einem nichtjüdischen Partner vor der Deportation geschützt waren. Mindestens weitere 20 Juden, die zwischen 1933 und 1939 Bad Godesberg verlassen hatten und teilweise in Nachbarländer emigriert waren, kamen in den Vernichtungslagern um. Zwei Godesberger Juden hatten bereits vor Kriegsbeginn einen gewaltsamen Tod gefunden. Eine solche Entwicklung hätte noch wenige Jahre zuvor niemand in Bad Godesberg für möglich gehalten.
Vorgeschichte
Die Mitglieder der kleinen Synagogengemeinde Godesberg-Mehlem - im Oktober 1925 hatte ihre Anzahl 140 Personen, darunter allerdings nur acht schulpflichtige Kinder, betragen4 - schienen weitgehend in die katholisch geprägten, oft noch dörflichen Gemeinschaften integriert zu sein. Jüdische Familien wie Meyer oder Jülich aus Godesberg, Sommer aus Muffendorf oder Levy aus Mehlem lebten hier oft schon seit mehreren Generationen. Die alteingesessenen Juden waren meist Metzger oder Viehhändler und hatten es so zu bescheidenem Wohlstand gebracht. In der Gründerzeit, aber auch noch in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, zogen - angelockt vom Ruf Godesbergs als attraktivem Wohnort - etliche wohlhabende Juden aus ganz Deutschland an den Rhein. Die Zugezogenen sind offenbar gut in die bestehende Gemeinde integriert worden, deren Homogenität nicht zuletzt dadurch bedingt war, dass die meisten Mitglieder auch verwandtschaftlich miteinander verbunden waren. Wie überall im Deutschland heirateten auch die Godesberger Juden in der Regel innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft, es kam aber auch verschiedentlich zu Eheschließungen zwischen Juden und Christen, wobei dann fast immer der jüdische Ehepartner zum Christentum übertrat. Vor allem unter den Zugezogenen gab es einige, deren ehemals jüdische Vorfahren zum Christentum konvertiert waren - ein Umstand, dem vor 1933 kaum jemand Beachtung schenkte. Harry Kley (am 22.5.1922 als Horst Klee in Godesberg geboren) charakterisierte die Godesberger Gemeinde als religiös, aber nicht orthodox: "In solchen Städtchen wie Godesberg und Bonn war man bewusst Jude und hat die Feiertage eingehalten. ... Die Leute ... haben sich eher als Deutsche gesehen denn als Juden." 5
Wie ihre Mitbürger waren die jungen Männer der jüdischen Gemeinde in den Ersten Weltkrieg gezogen, zwei von ihnen - Joseph Sommer aus Muffendorf und Julius Kaufmann aus Godesberg - hatten auf den Schlachtfeldern den Tod gefunden. Die Folgen des verlorenen Weltkrieges sollten für die deutschen Juden fatal sein: Der wachsende Antisemitismus, der nun selbst im katholischen Rheinland in weiten Teilen der Bevölkerung immer mehr Anhänger fand, bedrohte die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden. Insbesondere das politisch tonangebende Bürgertum entdeckte die "Judenfrage", und wenn auch anfangs noch kaum jemand an radikale Lösungen dachte, so war der Boden dafür bereitet, im jüdischen Mitbürger nicht mehr den Nachbarn mit anderem Glaubensbekenntnis, sondern den "volksfremden" Eindringling zu sehen. Die NSDAP fasste in Bad Godesberg - wie fast überall im Rheinland - erst relativ spät Fuß und konnte bei freien Wahlen niemals Mehrheiten erzielen. Nachdem sie aber als Folge der "Machtergreifung" in Berlin auch in Bad Godesberg alle Machtpositionen übernommen hatte, setzte sie hier genauso ungehindert wie überall ihre antijüdische Politik um.
Erste Verfolgungsmaßnahmen
Schon am 1. April 1933 kam es in Bad Godesberg zur ersten reichsweit organisierten Boykott-Aktion gegen jüdische Geschäfte. Außer einer kurzen Zeitungsmeldung ist über den Ablauf dieser als "Protestmaßnahme gegen die internationale jüdische Greuelpropaganda" bezeichneten "Aktion" nichts bekannt. Überliefert sind hingegen die Briefe verschiedener Godesberger Unternehmen (u.a. der Ringsdorff-Werke, der Godesia oder der Chamotte- und Dinas-Werke), in denen diese in fast gleichlautenden Schreiben ihren ausländischen Geschäftspartnern versichern, dass es in Deutschland keine Judenverfolgung gebe und die Maßnahmen der neuen Regierung sich lediglich gegen "bolschewikische Umtriebe" richteten.6 Der April-Boykott war nur der Auftakt zu immer neuen antijüdischen Maßnahmen und Verordnungen, mit denen die Nationalsozialisten und die von ihnen kontrollierten staatlichen Einrichtungen in den folgenden Jahren die Juden diskriminierten, ausgrenzten und wirtschaftlich schädigten, um sie so zum Verlassen Deutschlands zu zwingen. Mit dem Erlass der sogenannten "Nürnberger Gesetze" im September 1935 wurden Juden nun auch de jure zu Bürgern zweiter Klasse. Beziehungen zu Nichtjuden konnten fortan als "Rassenschande" strafrechtlich verfolgt werden. Zum Vorgehen gegen die Juden gehörte auch eine permanente und allgegenwärtige Propaganda in den Medien, in den Schulen und im öffentlichen Raum, die erfolgreich das antijüdische Feindbild in den Köpfen der nichtjüdischen Bevölkerung verstärkte. Auch die Anwendung von offenem Terror - ausgeführt meist von der SA oder der SS - gehörte schon in den ersten Jahren der NS-Herrschaft zum Alltag der Juden.
Der erste gewaltsame Tod eines Godesberger Juden ereignete sich bereits im Sommer 1935. Josef Levy (*13.12.83), ein alteingesessener Mehlemer Metzgermeister und hochdekorierter Kriegsveteran, soll angesichts der in den Ringsdorff-Werken aushängenden Transparenten mit Parolen zum Boykott jüdischer Geschäfte öffentlich geäußert haben, wenn diese Propaganda nicht entfernt würde, wolle er seine Freunde in den Niederlanden auffordern, dafür zu sorgen, dass dort keine Ringsdorff-Produkte mehr gekauft würden. Daraufhin rottete sich am Nachmittag des 18. Juni 1935 vor seinem Geschäft in der Meckenheimer Straße ein größerer Trupp SA-Männer zusammen, der schließlich gewaltsam in das Haus eindrang. Das weitere Geschehen ist nie aufgeklärt worden. Am nächsten Morgen fand ein Geselle den im Sterben liegenden Levy in der Räucherkammer vor. Der Körper des Metzgers wies Spuren von Misshandlungen auf. Im Haus war der Gashahn geöffnet worden - Todesursache war wohl eine Gasvergiftung. Offiziell wurde jedoch von Selbstmord gesprochen, polizeiliche Untersuchungen der Nachkriegszeit stießen innerhalb der Dorfgemeinschaft auf eine Mauer des Schweigens.7
Einen Monat später, am 18. Juli 1935, versammelten sich nachmittags um 17 Uhr im Sälchen des Gasthofes "Zur Linde" in der Bonner Straße zehn Mitglieder der Synagogengemeinde, um einen neuen Vorstand für dieses Gremium zu wählen. Die insgesamt 25 Wahlberechtigten - wählen durften nur volljährige männliche Juden - hatten sich bereits im Vorfeld auf eine gemeinsame Liste geeinigt, so dass alle Kandidaten jeweils einstimmig von den zehn anwesenden Stimmberechtigten gewählt wurden. Der neue Vorstand der Synagogengemeinde Godesberg-Mehlem bestand aus Albert Kahn, Maximilian Klee und Wilhelm Weil. Alle drei waren keine gebürtigen Godesberger, lebten aber seit Jahrzehnten in der Stadt. Albert Kahn betrieb einen Getreide- und Futtermittelhandel in der Bonner Straße 10, Max Klee war u.a. Teilhaber des Wäschegeschäfts Kaufmann & Klee in Bonn, und Wilhelm Weil betrieb in der Bahnhofstraße 8 ein Schuhgeschäft. Diese drei Männer sollten bis zum Untergang der Synagogengemeinde die Interessen der jüdischen Bürger vertreten, soweit dies im NS-Regime überhaupt möglich war.8
Die kleine jüdische Gemeinde war inzwischen stark gealtert, die Zahl ihrer Mitglieder sank seit 1925 trotz gelegentlicher Zuzüge beständig. Die 1933 einsetzende Emigration verstärkte den Prozess der Überalterung zusätzlich: Meist waren es die Jüngeren, die einen Neuanfang im Ausland versuchten, während die Älteren trotz aller Bedrängnisse weiter in Deutschland bleiben wollten. Zur Auswanderung entschlossen sich anfangs nur wenige. Abgesehen von dem Problem, überhaupt ein Asylland zu finden - die Asylpolitik der meisten Staaten war damals ähnlich restriktiv wie heute - konnten sich die meisten Godesberger Juden, von denen kaum einer sich jemals im Ausland aufgehalten hatte, ein Leben in der Fremde nicht vorstellen. Am Vorabend des Boykotts vom 1. April 1933 hatte die Ortspolizei auf Anordnung aus Berlin vorübergehend die Auslandspässe von Juden beschlagnahmt. Lediglich 15 Personen besaßen ein solches Dokument, zwei von ihnen hielten sich gerade vorübergehend im Ausland auf.9
Emigration
Erster Emigrant aus Bad Godesberg war der frischgebackene Doktor der Rechte Erich Weil, der als Jude sogleich vom Berufsverbot betroffen war. Der älteste Sohn von Wilhelm und Hedwig Weil hatte in Berlin Jura studiert und wurde nach dem Examen im April 1933 nicht mehr als Gerichtsassessor in den Staatsdienst übernommen. Er konnte noch erfolgreich die Doktorprüfung ablegen, besorgte sich angesichts der beruflichen Perspektivlosigkeit in Deutschland ein Visum für Frankreich und fuhr Ende Juli nach Paris. Mitte Oktober kehrte er noch einmal kurz nach Bad Godesberg zurück, um seine Verlobte Margot Spiegel, Tochter des verwitweten Kaufmanns Sally Spiegel aus der Rheinallee 36, zu heiraten. Margot und Erich wurden am 31. Oktober im damaligen Godesberger Rathaus unter einem Hitlerbild getraut, die kirchliche Zeremonie fand am folgenden Tag im Hause Spiegel statt, da man es nicht riskieren wollte, sich öffentlich in der Synagoge in der Oststraße trauen zu lassen. Nach der kleinen Feier reiste das frischgetraute Ehepaar über Holland nach Paris aus. Während der deutschen Besetzung Frankreichs gelang es Margot und Erich Weil, sich in die Schweiz zu retten. Die beiden waren die einzigen emigrierten Godesberger Juden, die nach dem Krieg in ihre Heimatstadt zurückkehren sollten.10 Senta Spiegel (später Neustädter), die Schwester von Margot Weil, fand 1938 Zuflucht in den USA. Herbert Weil, Erichs 1910 in Godesberg geborener Bruder, emigrierte 1935 nach Südafrika. Ihr Onkel Jacob Weil, der erst 1930 seine amerikanische Staatsbürgerschaft gegen die deutsche eingetauscht hatte, flüchtete im Januar 1937 über Kapstadt in die USA. Begleitet wurde er von seiner Schwägerin Hedwig Weil geb. Friesem, der Ehefrau seines älteren Bruders Wilhelm. Sei es aus persönlichen Gründen, sei es, weil er sich verantwortlich für die Synagogengemeinde fühlte: Wilhelm Weil blieb weiterhin in Bad Godesberg, obwohl er sein Schuhwarengeschäft wegen des anhaltenden Boykotts bereits im Dezember 1935 hatte aufgeben müssen.
Nach Südafrika emigrierte 1934 Sally Bär, ein Stiefsohn von Albert Kahn. Rudolf Frenkel, jüngster Sohn des Viehhändlers Raphael Frenkel und dessen Ehefrau Bertha aus der Burgstraße 75, war - vermutlich schon 1933 - einer der ganz wenigen Godesberger Juden, die nach Palästina gingen. Seine älteste Schwester Johanna, ihr Ehemann Hermann Lepehne und ihre beiden Kinder wanderten im Sommer 1938 über die Niederlande nach Uruguay aus. Der älteste Bruder Isidor Frenkel emigrierte ebenfalls im Sommer 1938 in die Niederlande, wohin ihm später Ehefrau Erna und Sohn Ralf folgten. Auch dem dritten Bruder Bernhard Frenkel gelang es zu emigrieren: Mit Ehefrau Änne und Tochter Inge ging er im Oktober 1938 in die USA. Bereits 1936 waren die Niederlande Zufluchtsort der Familie Daniel geworden, die bis dahin in der Friesdorfer Straße 90 eine Metzgerei betrieben hatten: Die Brüder Joseph und Robert Daniel meldeten sich im Januar nach Utrecht ab, im September folgten die Schwestern Frieda und Martha mit der 76-jährigen Mutter Jeanette Daniel. Auch die beiden Töchter der Familie Heumann aus der Augustastraße 43 gingen ins Exil: Martha Salm bereits im Dezember 1934 mit ihrem Ehemann in die USA, Johanna Heumann (später Hoffmann) 1936 nach Argentinien. Der Metzger Otto Jülich und seine Ehefrau Frieda aus der Burgstraße 12 emigrierten Anfang 1938 nach New York. Die Vereinigten Staaten boten auch der evangelischen Familie des verstorbenen Oberlandesgerichtspräsidenten Leser aus Plittersdorf Zuflucht: Dr. Albert Leser emigrierte wahrscheinlich schon 1934 mit seiner Frau und den beiden Kindern, kurze Zeit später folgte Bruder Paul. Vermutlich 1938 ging Schwester Marie Lingemann ins Exil, ihr "arischer" Ehemann blieb vorläufig noch in der Villa Cahn wohnen. Mutter Helene Leser fand Zuflucht in Schweden, wo sie 1940 in Stockholm verstarb.
Umgekehrt kam es allerdings in der Zeit zwischen 1933 und 1939 auch weiterhin vor, dass Juden von außerhalb in das vergleichsweise ruhige Bad Godesberg zogen. Manche hofften, hier unbehelligt von antijüdischen Ausschreitungen leben zu können, die anderswo in Deutschland auf der Tagesordnung standen, andere kamen, um in jüdischen Haushalten oder Betrieben zu arbeiten, nachdem immer mehr Vorschriften ein Nebeneinander von Juden und Nichtjuden auch in beruflicher Hinsicht unterbanden. Einige wollten - wie früher üblich - als Rentiers ihren Lebensabend in Bad Godesberg verbringen: So erwarb der 62-jährige pensionierte Regierungsrat Richard Landsberg - ebenso wie Ehefrau und Sohn Protestant - im August 1935 das Haus Wendelstadtallee 16. Noch im Sommer 1937 zogen der 76-jährige niederländische Fabrikant Hermann Kan und seine aus Beuel stammenden Ehefrau Johanna zu Verwandten in der Viktoriastraße 34, kehrten aber nach einem Jahr dann doch wieder in die Niederlande zurück.
Verschärfte antijüdische Maßnahmen
Die Phasen relativer Ruhe in der deutschen Judenpolitik verführten viele Juden, weiterhin zu hoffen, dass sich ihre Lage wieder verbessern oder zumindest nicht noch weiter verschlechtern würde. Ab etwa Frühjahr 1938 jedoch verschärfte die Reichsregierung den antijüdischen Kurs. Maßnahmen, wie weitere Berufsverbote, Eingriffe in jüdische Betriebe oder die Einführung der Zwangsvornamen "Sara" und "Israel" sollten den Druck auf die noch im Lande verbliebenen Juden erhöhen. Ziel deutscher Politik war es noch, die Juden zur Ausreise zu zwingen.
Am 2. August 1938 starb der 37-jährige Ernst Daniel im Konzentrationslager Buchenwald angeblich an Lungenentzündung. Der seit 1911 in Godesberg lebende Kaufmann war am 17. Juni 1938 im Rahmen der "Asozialen-Aktion" verhaftet worden, als die Gestapo reichsweit mehr als tausend Juden mit Vorstrafen in das 1937 errichtete Lager verschleppte. Der mittellose Ernst Daniel, der zu Beginn der dreißiger Jahre regelmäßig Unterstützung vom Wohlfahrtsamt bezogen hatte und zuletzt bei seiner Schwester Martha Oster in der Burgstraße 46 lebte, hatte eine einjährige Gefängnishaft verbüßen müssen, zu der er im Sommer 1935 wegen eines angeblichen Vergehens gegen den §175 verurteilt worden war.11
Von der Ausweisungsaktion gegen "Ostjuden" am 28. Oktober 1938, in deren Verlauf etwa 17.000 staatenlose und polnische Juden nach Polen abgeschoben wurden, waren in Bad Godesberg nur die beiden Brüder Rosenberg betroffen. Elukin (Jacob) und Aron (Heinrich) Rosenberg stammten aus Lodz und waren 1915 mit ihren inzwischen verstorbenen Eltern nach Godesberg gekommen. In der Schultheißgasse 2, später in der Burgstraße 38, betrieben sie eine Schusterwerkstatt, von deren Ertrag sie offenbar nur so gerade leben konnten.12 Elukin und Aron wurden zwar ausgewiesen, nicht aber sofort abgeschoben. Kurz vor Ablauf ihrer auf den 1. Juli 1939 befristeten Aufenthaltserlaubnis verließen sie Bad Godesberg und kehrten über Köln vermutlich nach Polen zurück. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
Über den Verlauf des verharmlosend als "Reichskristallnacht" bezeichneten staatlich organisierten Pogroms vom 9./10. November in Bad Godesberg ist wenig bekannt. Anders als in Bonn und Beuel gab es hier in der Nachkriegszeit keine gerichtliche Aufarbeitung der Vorgänge. Die kleine Synagoge in der Oststraße wurde am 10. November um 14 Uhr vermutlich von auswärtigen SA-Männern in Brand gesteckt, die Godesberger Feuerwehr beschränkte sich darauf, ein Übergreifen des Feuers auf die Nachbarhäuser zu vermeiden.13 Zahlreiche Schaulustige hatten sich eingefunden, die glaubhaften Berichten zufolge das Zerstörungswerk mit Bedrückung beobachteten. Auch die Synagoge in Mehlem fiel an diesem Tag den Brandstiftern zum Opfer.14 Inwieweit auch jüdische Geschäfte und Privathäuser demoliert wurden, ist nicht überliefert.
Aus dem Bericht des Bonner Arztes Dr. Arthur Samuel, der in Erwartung seiner Emigration in die USA am 10. Oktober 1938 in die Hochkreuzallee gezogen war, wissen wir, dass nach dem Pogrom 13 Godesberger Juden verhaftet wurden. Nach einer vorbereiteten Liste wurden die Männer von der Polizei mit einem Einsatzfahrzeug in ihren Wohnungen abgeholt und dann in einen Keller des Rathauses gesperrt. Von den Festgenommenen kannte der ortsfremde Samuel nur Richard Landsberg, einen früheren Patienten. In der Nacht wurden sie nach Bonn zunächst in die Gestapozentrale am Kreuzbergweg überführt, um dann zusammen mit den verhafteten Bonner Juden ins Gefängnis in der Wilhelmstraße gebracht zu werden. Am Abend des nächsten Tages wurden die Gefangenen schließlich mit unbekannten Ziel abtransportiert - über ihr weiteres Schicksal konnte Dr. Samuel keine Angaben machen, da er als Vorsitzender der Bonner Synagogengemeinde von der Gestapo gebraucht und daher freigelassen wurde.15 Aus anderer Quelle ist bekannt, dass Albert Kahn ins KZ Dachau verschleppt worden ist.16 So wie er wurden überall im Deutschen Reich insgesamt etwa 30.000 Juden während des Pogroms in Konzentrationslager verbracht. Dort wurden sie gedemütigt und misshandelt und kamen meist nach einigen Wochen wieder frei - oft erst dann, wenn ihre Familien für sie Auswanderungspapiere vorlegen konnten.
Für Bad Godesberg lässt sich für die Zeit zwischen dem Pogrom und dem Beginn des Krieges keine Zunahme der Emigration feststellen. Dies wird wohl vor allem an den Schwierigkeiten liegen, die die Auswanderungswilligen zu überwinden hatten. Immer weniger Staaten waren bereit, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Oft mussten hohe Summen für ein Visum bezahlt werden, die von den inzwischen meist verarmten Godesberger Juden kaum aufgebracht werden konnten. Mittels "Reichsfluchtsteuer" und anderer Abgaben plünderte zudem die Reichsregierung die Emigranten aus. Unter den Flüchtlingen des Jahres 1939 befand sich auch der in der Pogromnacht festgenommene Richard Landsberg, der am 14. April Bad Godesberg mit dem Ziel Belgien verließ. Horst Klee, einziger Sohn von Max und Johanna Klee aus der Bonner Straße 74, wanderte im März nach England aus. Der Plittersdorfer Metzger Julius Hermann, der bis 1936 sein Geschäft in der Mühlenstraße 3a hatte und dann nach Sinzig verzogen war, ging 1939 mit Ehefrau Adelheid (Erna) und Sohn Helmut Friedrich nach Venezuela. In Großbritannien Asyl fanden im Juli das Ehepaar Hermann und Selma Cohnen, das erst 1936 aus Berlin zugezogen war, ebenso wie im September das Ehepaar Hans und Elsbeth Fabian, 1933 aus Neuwied zugezogen. Artur (Oskar) Wolff, der seit 1934 in seinem Haus in der Viktoriastraße 34 ein Exportgeschäft für Haus- und Küchengeräte führte, ging mit seiner Ehefrau Frieda im August zunächst nach London, später in die USA. Die beiden Töchter der Familie waren bereits vorher emigriert: Ilse 1936 nach Brasilien, Lore im April 1939 nach New York. Jeanette (Jenny) Heumann aus der Augustastraße 43 begab sich am 11. Oktober 1939 ins Exil zu ihrer Tochter nach Buenos Aires. Sie war die letzte Jüdin aus Bad Godesberg, der die Emigration in ein sicheres Land gelingen sollte.
Trotz der immer schärferen antijüdischen Maßnahmen war es weiterhin für viele - insbesondere für die Älteren - undenkbar, ihre Heimat Deutschland zu verlassen. Dass inzwischen kein Jude in Deutschland seines Lebens mehr sicher war, wollten sie sich immer noch nicht eingestehen. So schrieb die Witwe Rosalie Adler aus der Bahnhofstraße 22 noch am 5. Oktober 1939 ihrem kurz zuvor nach Palästina emigrierten Sohn Adolf (Asher), er müsse zukünftig ohne ihre finanzielle Unterstützung aufkommen: "Andernfalls mußt Du eben nachhause kommen und wir müssen sehen, wo Du Arbeit findest."17 Die wirtschaftliche Situation der meisten Godesberger Juden war inzwischen äußerst schlecht. Die meisten lebten von der Substanz, mussten sich durch den Verkauf ihres Besitzes über Wasser halten, wie die seit 1937 verwitwete Karoline Kaczka, die nach und nach ihr Mobiliar und schließlich auch ihr Haus veräußern musste.18 Von den im September 1938 noch bestehenden 14 jüdischen Gewerbebetrieben existierte im Februar 1939 nur noch die Firma Oskar Wolff, die zum 1. Juli 1939 ebenfalls schließen musste.19 Durch die "Sühneleistung der Juden" in Höhe von einer Milliarde Reichsmark, die die Reichsregierung nach dem Pogrom verhängt und auf alle Juden entsprechend ihres Besitzes umgelegt hatte, wurden die Menschen noch weiter ausgeplündert.
Verfolgtenalltag
Dr. Richard Schreiber, ein einst sehr wohlhabender Arzt aus Ostpreußen, der 1934 nach seiner Vertreibung aus Tilsit das Haus Rolandstraße 40 erworben hatte, beschreibt 1954 in einem Antrag auf "Wiedergutmachung" sein Leben in Bad Godesberg nach dem Pogrom. Durch die "Mischehe" mit der nichtjüdischen Ehefrau Paula Helene befand er sich gegenüber anderen Juden in einer vergleichsweise "privilegierten" Lage:19a
"14.11.38 Beschlagnahmung des gesamten Vermögens durch Oberfinanzpräsident Köln.
22.11.38 Auferlegung der ‚Judenbuße' in Höhe von 61.500 RM.
12.38 Festsetzung einer sehr beschränkten monatlichen Verbrauchssumme von 400,- RM aus dem Vermögensertrag.
3.1.39 Erste Hausdurchsuchung durch Gestapo (Reg.Rat Seddels [richtig: Kriminalkommissar Settels]) und SD-Leiter (Zahnarzt Dr. Müller) unter gemeinster, unqualifizierter Beschimpfung meiner Frau und meiner Person. Fortnahme einer Sammlung Silbermünzen und diverser Bücher.
20.4.39 Erneute Haussuchung. Drängen zur Auswanderung, mindestens zum Verlassen Godesbergs.
11.5.39 Befehl der Gestapo an alle jüdischen Einwohner, Godesberg bis zum 30.6.39 zu verlassen. ...
15.9.39 Haussuchung durch SD-Leiter Dr. Müller-Bonn. Schwere Beschimpfung meiner Frau, die Ehescheidung bestimmt ablehnt. Fortnahme eines sehr wertvollen Radioapparates.
ca. 17.9.39 Fortnahme eines weiteren Radioapparates durch die Kriminalpolizei Godesberg.
21.9.39 Vorladung zur Gestapo Bonn (S.D. Leiter Dr. Müller) wegen angeblichen Abhörens fremder Sender. Versuch, von mir ein Eingeständnis durch Unterschreiben des betreffenden Aktenstückes zu erzwingen. Da ich Unterschrift verweigere, muß ich im Garten der Gestapo - trotz meines Alters von fast 60 Jahren - einen Dauerlauf von 1500 bis 1600 mtr machen.
22.9.39 wie am gestrigen Tage.
23.9.39 Vorladung meiner Frau zur Gestapo, die vor dem Gestapohaus auf öffentlicher Straße von Dr. Müller, unter Androhung der Verhaftung, grob und laut beschimpft wird, weil sie Ehescheidung weiterhin ablehnt. [...]
1.9.41 Verordnung zum Tragen des ‚Judensternes' ab 19.9.41. Von diesem Tage an bis zu meiner Flucht am 18.9.44, d.h. 3 Jahre lang, habe ich unser Hausgrundstück überhaupt nicht verlassen."
Bad Godesberg soll "judenfrei" werden
Der von Dr. Schreiber erwähnte Ausweisungsbefehl vom 15. Mai 1939 ist sonst nirgends überliefert. Dennoch spricht alles dafür, dass es - fünf Monate vor Kriegsbeginn - tatsächlich den Versuch gegeben hat, den "Lieblingsaufenthalt des Führers" "judenfrei" zu machen. Auffällig ist, dass 27 Juden im Zeitraum Juni bis Mitte Juli 1939 von Bad Godesberg in einen Nachbarort - meistens nach Köln - umgezogen sind. In den Monaten davor und danach kamen solche Umzüge nur selten vor. Zudem sind aus der Zeit mehrere Hausverkäufe bekannt. So veräußerte das Ehepaar Klee ihr Haus Bonner Straße 74, in dem sie mit den Schwiegereltern und der Familie Kahn wohnten, um nach Bonn zu ziehen, wo sie in der Meckenheimer Straße bereits Räume angemietet hatten. In Bonn aber verbot der Oberbürgermeister ihnen den Zuzug, woraufhin sie vorläufig Unterkunft in Köln fanden.20
Sicherlich war die Ausweisung der Godesberger Juden kein Alleingang der Bonner Gestapo, eine Absprache mit der hiesigen Stadtverwaltung ist wahrscheinlich. Ein Zusammenhang mit der fast gleichzeitig stattgefundenen Volkszählung, bei der man die aus Sicht der Stadtverwaltung zu hohe Zahl von 83 Juden registrierte, ist anzunehmen. Bürgermeister Alef bemühte sich, diese Zahl zu senken. Dazu gehörte auch seine Anweisung vom 10. Juni 1939 an die Verwaltung, "dass der weitere Zuzug von Juden in den hiesigen Stadtbezirk unter allen Umständen vermieden werden muss".21 Zufrieden konnte Alef Anfang Juli feststellen, dass "die hier noch wohnenden Juden größtenteils die Absicht zeigen, nach auswärts zu verziehen ... Die jüdischen Häuser sind bis auf wenige verkauft worden. Die Eigentümer und jüdischen Mieter dieser Häuser haben sich meistens auswärts Wohnungen besorgt."22 Inzwischen hatten wohl die meisten Städte und Gemeinden ein Zuzugsverbot für Juden erlassen. Auch für Köln war ein solches Verbot verhängt worden, das zudem rückwirkend ab dem 1. Juli wirksam sein sollte. Damit waren vorläufig alle Pläne, Bad Godesberg "judenfrei" zu machen, hinfällig.
In "Judenhäusern" isoliert
Die Godesberger Stadtverwaltung musste sogar - offenbar auf Druck der Kölner - mithelfen, für zwölf im Sommer nach Köln vertriebene Juden wieder in Bad Godesberg Unterkünfte zu besorgen. Durch ihre Vermittlung konnte Wilhelm Weil im Oktober 1939 das seit längerem leerstehende Haus Königsplatz 2 für eine Monatmiete von 275 M. für die Dauer von drei Jahren mieten. 23 Hier zogen ab dem 20. Oktober ein: Wilhelm Weil (*30.5.1878); Ruth Schlesinger (*24.1.1917), eine Hausgehilfin, die ursprünglich für Jacob Weil gearbeitet hatte und nun den Haushalt von Wilhelm besorgte; Weils Schwägerin Rosalie Adler (*29.9.1888); Max Klee (*28.3.1894) mit seiner Ehefrau Johanna (*25.5.1899) und deren Eltern Hermann (*30.8.1870) und Mathilde Kaufmann (*20.1.1870); Albert (*24.1.1888) und Eva Kahn (*29.1.1891) mit ihrer Tochter Thea (*12.8.1921); Gustav Meyer (*2.8.1892), ein früherer Buchprüfer; Ernestine Levy (*20.3.1883), Witwe des 1935 umgekommenen Mehlemer Metzgermeisters Josef Levy, und ihr Sohn Karl (*24.12.1919).
Das "Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden" vom 30. April 1939, das den Mieterschutz von Juden in Häusern nichtjüdischer Besitzer stark einschränkte und so das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden unter einem Dach unmöglich machen sollte, trug dazu bei, dass schließlich fast alle Godesberger Juden in Häuser zogen, die noch in jüdischem Besitz waren. Außer dem Königsplatz 2 gab es noch vier weitere "Judenhäuser": In der Burgstraße 46 wohnte die Familie Oster, die hier seit 1879 ein Geschäft für "Besen- und Bürstenwaren" betrieb. Witwe Henriette Oster (*23.12.1859) lebte hier mit ihren unverheirateten Töchtern Karoline (*2.8.1881) und Julie (*15.9.1888), ihrem Sohn Theodor (*23.9.1882) sowie dessen Frau Martha (*14.1.1892). Hier hatten auch die seit dem Ersten Weltkrieg in Godesberg lebende frühere Hausdame Ida Baer (*24.8.1876) und nach Verkauf ihres Hauses Karoline Kaczka (*18.10.1873) Unterkunft gefunden. In der Friesdorfer Straße 92 lebten der frühere Leiter der Godesberger Milchkuranstalt Max Isaak (*1.9.1874) mit seiner Frau Sara (*26.6.1874). Hier hatte im Februar 1939 das aus Nassau stammende Ehepaar Julius (*11.10.1876) und Serlina (*8.11.1878) Israel eine Wohnung gefunden. Lina Israel war eine Schwester von Hermann Kaufmann, dem Schwiegervater von Max Klee. In der Bonner Straße 74, dem früheren Haus der Familie Klee, lebte inzwischen die Familie Cahn. Der Beueler Hugo Cahn (*16.5.1906), ursprünglich Kaufmann, nun als Tiefbauarbeiter eingesetzt, war im Oktober 1939 mit seiner Mutter Berta (*10.12.1874) nach Bad Godesberg gezogen. Er heiratete hier am 25. Mai 1940 Edith Scheidemann (*9.8.1914) aus Bochum; am 5. Oktober 1940 wurde Sohn Salo geboren. In der Wilhelmstraße (heute Kolfhausstraße) 18, dem früheren Haus von Frau Kaczka, wohnte die evangelische Familie Heidenheim, eine vergleichsweise wohlhabende Familie, die 1939 insgesamt 36.500 RM im Rahmen der jüdischen Vermögensabgabe hatte zahlen müssen. Der frühere Kaufmann Friedrich Günther Heidenheim (*23.9.1878), seine Ehefrau Helene (*21.3.1886) und Tochter Ellen (*5.3.1920) waren erst im November 1938 von Köln nach Bad Godesberg gezogen.
Neben den Genannten lebten in der Zeit von 1939-41 noch etwa 20 nach den "Nürnberger Gesetzen" als Juden geltende Menschen in Bad Godesberg - die meisten von ihnen gehörten christlichen Konfessionen an und/oder waren mit Nichtjuden verheiratet. Der Schutz, den eine solche Ehe lange Zeit dem jüdischen Partner bot, wurde hinfällig, wenn sich die Eheleute trennten. Paula Dammann (*29.11.1879), die seit 1932 in der Denglerstraße 42 gewohnt hatte, war seit Oktober 1938 von ihrem Mann geschieden. Sie wohnte zuletzt im Hause des Arztehepaares Schreiber. Die Katholikin Ella Michaelis (*9.9.1880) lebte seit 1905 als Hausdame mit der Geschäftsfrau Louise Unger zusammen, seit 1936 wohnten die beiden im Haus Plittersdorfer Straße 57. Wegen ihrer jüdischen Großeltern galt Frau Michaelis nun als Jüdin. Die Zahlung der "Judenbuße" hatte sie wirtschaftlich ruiniert.24 Vorläufig sah man aber noch davon ab, sie in ein "Judenhaus" einzuweisen. Auch die beiden Witwen Jetta Sommer (*23.7.1866) und Mathilde Dardenne (*15.7.1867) lebten lange Zeit unbehelligt in ihren Häusern in Muffendorf. Jetta Sommer, Witwe des 1926 verstorbenen Metzgers Bernhard Sommer, wohnte in der Klosterbergstraße 20. Mathilde Dardenne war 1928 nach dem Tod ihres Ehemannes zu ihrer Schwester Julie Sommer gezogen und wohnte auch noch nach deren Tod 1937 in der Hauptstraße 42. Frau Dardenne war durch ihre Heirat belgische Staatsangehörige geworden.
Wenig ist über das Leben der 1939-41 in Bad Godesberg verbliebenen Juden bekannt. Offenbar hatten sie kaum noch Kontakt zu nichtjüdischen Nachbarn. Die wenigen überlieferten Briefe an Angehörige und Freunde geben nur indirekt Auskunft über ihren Alltag. Viele bemühten sich immer noch verzweifelt, eine Möglichkeit zur Emigration zu finden, doch alle Hoffnungen zerschlugen sich an den inzwischen fast unüberwindbar gewordenen Hürden. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der meisten Juden wurden immer schwieriger, lebten doch fast alle von der Substanz, und nur wenige konnten einer Erwerbsarbeit nachgehen. Max Klee z.B. war im Sommer 1941beim Godesberger Mineralbrunnen " ... zur Aushilfe vielleicht bis Ende August nach dort abkommandiert ... Meine Arbeitszeit ist von morgens 7 Uhr bis 12 Uhr, dann von 13 bis 18.15 Uhr, auch Samstags. Sonntags bin ich dann froh, wenn ich mich dann etwas ausruhen kann."25
Internierung
Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann auch für die Godesberger Juden die letzte Phase ihrer Verfolgung. Hatte die deutsche Politik bisher die Vertreibung der Juden verfolgt, setzten sich nun in Regierung und Parteiapparat die radikalen Kräfte durch, für die die "Endlösung der Judenfrage" die physische Vernichtung aller Juden im deutschen Herrschaftsbereich bedeutete. Der Massenmord sollte nicht in Deutschland stattfinden, er sollte in die eroberten Gebiete des Ostens verlegt werden, wo durch den Mord an den dort lebenden Juden bereits eine entsprechende Infrastruktur geschaffen worden war. Die deutschen Juden mussten also in den Osten deportiert werden - ein Unternehmen, das das Zusammenspiel vieler Institutionen wie der SS, der Polizei, der Wehrmacht, der Reichsbahn sowie etlicher Verwaltungsstellen erforderlich machte.
Zur Vorbereitung ihrer Deportation mussten Ende Januar 1942 alle Juden nun endgültig ihre Heimatstadt Bad Godesberg verlassen und in zwei Lager nach Bonn und nach Köln umziehen. Davon verschont blieben nur die in "Mischehe" lebenden Juden und - aus nicht bekannten Gründen - die verwitwete Rosa Rosenthal (*22.7.1869), die im Hause ihrer mit einem Nichtjuden verheirateten Tochter Johanna Bauer in der Rüngsdorfer Straße 4c lebte. Als im Sommer 1942 für die Godesberger Juden die Deportationen in den Osten begannen, beschloss sie, sich allen weiteren Verfolgungen zu entziehen, und nahm sich am 19. Juli das Leben.26
Am 20. Januar verließen zehn überwiegend sehr alte Juden ihre Heimatstadt mit dem Ziel Cäcilienstraße 19/20 in Köln, dem inzwischen von der Gestapo beschlagnahmten und zum "Altenheim" umfunktionierten Gebäude der "Rheinland-Loge". Eine von ihnen, die 83-jährige Henriette Oster verstarb am 14.9.1942 in Köln. Die anderen Godesberger Juden - insgesamt 24 Personen - kamen in das ehemalige Kloster "Zur ewigen Anbetung" in Endenich, das seit Juni 1941 als Sammellager für Juden aus Bonn und der Umgebung diente. Unter den hier Eingewiesenen befand sich auch ein kaum zwei Wochen alter Säugling: Ellen Heidenheim hatte am 9. Januar 1942 in Bad Godesberg einen Sohn zur Welt gebracht, der den Namen Denny erhalten hatte. In Endenich litten die Internierten unter der drangvollen Enge und der schlechten Versorgung mit dem Lebensnotwendigen. Bertha Frenkel (*6.4.1873), die im Zuge der Ausweisungsaktion vom Sommer 1939 mit ihrem Ehemann Raphael nach Bonn verzogen war, starb am 3. Februar im Kloster. Die arbeitsfähigen Frauen und Männer mussten in Betrieben der Umgebung Zwangsarbeit leisten. Der Aufenthalt im Endenicher Kloster sollte nicht lange dauern: Im Sommer 1942 wurden die Deportationen in den Osten wieder aufgenommen.
Beginn der Deportationen
Bereits am 22. Oktober 1941 war von Köln aus ein Transport ins Ghetto Lodz abgegangen, mit dem auch Mathilde Henle (*9.5.1876) deportiert wurde, die bis 1938 in der Winterstraße 10 ein Schuhgeschäft geführt hatte, im Juni 1939 aber nach Köln gezogen war. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt, sie wurde nach dem Krieg für tot erklärt. Ein weiteres frühes Opfer der Deportationen war Elly Daniel (*12.11.1894), Schwester des im KZ Buchenwald umgekommenen Ernst Daniel. Die Köchin hatte von 1911 bis 1935 in ihrem Elternhaus in der Rheinallee 35 gelebt. Sie wohnte später in Dortmund und wurde von dort aus am 27. April 1942 ins Ghetto Zamosc bei Lublin deportiert, wo sich ihre Spur verliert.27 Die Organisation der Deportationen lag in den Händen der Gestapo. Unter ihrer Kontrolle wurde festgelegt, wer welchem Transport zugeteilt wurde. Die Betroffenen, die einige Tage zuvor benachrichtigt worden waren, mussten sich einen Tag vorher im Lager Köln-Messe einfinden. Alle Deportationszüge, die immer etwa 1.000 Juden beförderten, fuhren vom Bahnhof Köln-Deutz-Tief ab.28
Izbica
Der erste Transport, mit dem am 15.6.1942 eine größere Gruppe von Internierten aus Endenich deportiert wurde, sollte unter der Bezeichnung "Da 22" angeblich nach "Litzmannstadt" (damalige Bezeichnung für Lodz) fahren, hatte aber tatsächlich die polnische Kleinstadt Izbica bei Lublin zum Ziel.29 Unter den insgesamt 1.066 Deportierten aus dem gesamten Rheinland befanden sich 14 Godesberger. Hugo und Edith Cahn mit Söhnchen Salo, Friedrich Günther und Helene Heidenheim mit Tochter Ellen und deren Baby Denny, Paula Dammann, Ella Michaelis, Serlina Israel (ihr Ehemann Julius war im Vorjahr verstorben), Ruth Schlesinger sowie Wilhelm Weil, seine Schwägerin Rosalie Adler und seine Schwester Selma Meyer (*1.7.1889), die lange im Haus der Weils in der Bahnhofstraße gelebt hatte. Über die weitere Geschichte dieses Transportes ist wenig bekannt, keiner der 1.066 Deportierten ist nach dem Krieg wieder zurückgekehrt. Es ist anzunehmen, dass von dem als Durchgangslager fungierenden Izbica aus die meisten direkt in die Vernichtungslager der Umgebung geschickt worden sind. Junge und Arbeitsfähige wurden oft noch als Arbeitssklaven eingesetzt, bevor sie umgebracht wurden. Familie Heidenheim und Rosalie Adler sind in Sobibor verschollen, Hugo Cahn wurde am 11. Juli im Lager Majdanek umgebracht.30 Wilhelm Weil soll noch von einem Godesberger Soldaten bei Bahndammarbeiten in Riga (Lettland) gesehen worden sein.31
Theresienstadt
Bereits einen Tag später, am 16.6.1942, verließ der nächste Transport Köln, diesmal mit dem Ziel Theresienstadt. In dem nordwestlich von Prag gelegenen ehemaligen Festungsstädtchen war ein Ghetto einrichtet worden, das vornehmlich Alte und Weltkriegsveteranen aufnehmen sollte. Ständige Überbelegung und eine miserable Versorgungslage kennzeichneten die Situation in Theresienstadt, so dass unter den alten Leuten eine extrem hohe Sterblichkeit herrschte. Zudem gingen aus dem Ghetto regelmäßig Transporte in die Vernichtungslager, vor allem nach Auschwitz. Von den 12 Godesberger Juden dieses Transportes waren viele schon kurz nach der Ankunft nicht mehr am Leben: Theodor Oster starb am 27. Juli, seine Frau Martha wurde am 29. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert. Jakob genannt Julius Mayer (*6.1.1863), ein ehemaliger Viehhändler aus einer alteingesessenen Godesberger Familie, starb am 11. August. Karoline Müller (*28.10.1873), die von 1933 bis 1939 bei ihrer Schwägerin Jenny Heumann in der Augustastraße 43 gelebt hatte, starb am 17. September. Rosa Levy (*6.6.1875), Tochter des Mehlemer Metzgers Herz Levy, starb am 5. Oktober. Sara Auerbach (*27.1.1871), die lange Zeit in ihrem Haus in der Viktoriastraße 3 eine Art Kinderheim geführt hatte, starb am 16. Januar 1943. Karoline Kaczka, Jetta Sommer sowie Max und Sara Isaak wurden am 19. September 1942 ins Vernichtungslager Treblinka deportiert. Von Adele Levy (*3.1.1865), die bis zum Tode ihres Ehemannes 1939 in der Gerhard-Rohlfs-Straße 24 gelebt hatte, und von Bertha Cahn gibt es keine Informationen über Sterbeort und -datum.32
Minsk
Beim nächsten Transport, der als "Da 219" am 20. Juli 1942 gegen 15 Uhr in Köln abfuhr und der die insgesamt 1.164 Insassen angeblich zum Einsatz in der Landwirtschaft nach Minsk in Weißrussland bringen sollte, waren wieder 10 Godesberger dabei. Dieses Mal befanden sich nur wenige alte Menschen im Zug, um die Legende von einem Arbeitseinsatz glaubwürdig erscheinen zu lassen. Einer der ältesten war der fast 70-jährige Raphael Frenkel (*2.2.1873), der gemeinsam mit seinen Söhnen in der Burgstraße 75 ein Viehtransportgeschäft betrieben hatte. Er wurde begleitet von seinen beiden jüngsten Töchtern Erna Frenkel (*1. 10.1911) und Frieda Gottschalk (*26.4.1908) sowie von deren Ehemann Ernst Gottschalk (*16.5.1906). Ernst Gottschalk hatte 1937-38 im Hause der Schwiegereltern einen Vertrieb für Edelmetallputzpulver geführt.33 In dem Zug nach Minsk saßen auch Albert und Eva Kahn mit ihrer Tochter Thea sowie Ernestine Levy und ihr Sohn Karl. Ruth Adler (*13.3.1915), die Tochter von Rosalie Adler, kam aus dem Lager Niederbardenberg (Kreis Aachen). Sie hatte 1933 ihr Elternhaus in der Bahnhofstraße 22 verlassen, war in Frankfurt in einer sozialistischen Gruppe aktiv gewesen und hatte deshalb eine Zeitlang im Gefängnis gesessen.34 Am 24. Juli 1942 vormittags erreichten die Deportierten den Bahnhof Minsk. Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Insassen in den nahe gelegenen Ort Maly Trostenez gebracht und entweder unterwegs in Lastwagen vergast oder nach der Ankunft erschossen. Überlebende aus diesem Transport sind nicht bekannt.35
Und wieder Theresienstadt
Am 27. Juli mussten die letzten Insassen das Kloster Endenich mit dem Ziel Theresienstadt verlassen. Unter den sechs Godesbergern dieses Transportes befand sich Johanna Spiegel (*4.5.1866), die sich 1919 in Godesberg bei der Familie ihres Bruders Sally niedergelassen hatte. Als sie 1939 Godesberg verlassen musste, ging sie nach Köln zurück, wo sie vor dem Ersten Weltkrieg gemeinsam mit ihrer ebenfalls unverheirateten Schwester ein Schuhgeschäft betrieben hatte. Johanna Spiegel starb am 7. Januar 1944 in Theresienstadt. Hermann Kaufmann starb bereits am 2. September im Ghetto, seine Frau Mathilde musste gemeinsam mit vier Godesbergern aus dem vorigen Transport am 19. September die Reise in den Tod ins Vernichtungslager Treblinka antreten. Max Klee wurde am 28. September 1944 nach Auschwitz deportiert, am 4. Oktober folgte ihm seine Frau Mathilde. Auch Gustav Meyer kam am 12. Oktober 1944 nach Auschwitz. 36 Einzelheiten über das Leben seiner Eltern in Theresienstadt erfuhr Harry Kley nach dem Krieg von Überlebenden. Max und Johanna Klee hatten im Ghetto ein Kind, das seine Eltern verloren hatte, bei sich aufgenommen. Von einer befreundete Familie in Deutschland erhielten sie sogar noch hier Pakete mit Lebensmitteln zugesandt. Max Klee arbeitete im Lager als Koch.37
Aus Köln wurden am 25. September 1942 drei weitere Godesbergerinnen nach Theresienstadt deportiert: Karoline Oster starb am 21. März 1944 im Ghetto; ihre Schwester Julie wurde am 23. Januar 1943 nach Auschwitz deportiert - ebenso Ida Baer am 18. Dezember 1943. Als einzige Godesbergerin überlebte Mathilde Dardenne die Deportation. Sie war im April 1943 von Köln nach Theresienstadt deportiert worden. Im Juli 1945 kehrte die fast 80-jährige Frau nach Muffendorf zurück. Sie verstarb am 5. Dezember 1956 in Bad Godesberg.38
Weitere Opfer
Die über Köln in den Tod Deportierten waren jedoch nicht die einzigen Opfer des Holocausts aus Bad Godesberg. Die benachbarten Niederlande, in denen mehrere Godesberger ein sicheres Asyl zu finden geglaubt hatten, wurden nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht zur Todesfalle. Sally Spiegel (*1.8.1873), ein einst wohlhabender Kaufmann, dem in der Rheinallee mehrere Häuser gehört hatten, wurde am 20. Juli 1943 über das holländische KZ Westerbork ins Vernichtungslager Sobibor deportiert. Er soll sich nach der Bombardierung Kölns im Mai 1942 nach Holland geflüchtet haben, sei aber von der Familie, bei der er wohnte, verraten worden.39 Josef Daniel (*5.8.1894) wurde ebenfalls über Westerbork nach Sobibor deportiert, wo er am 21. Mai 1943 ermordet wurde. Seine Mutter Jeannette Daniel (*7.2.1860) und seine Schwester Frieda (*14.7.1887) wurden 1943 nach Auschwitz deportiert. Isidor Frenkel (*27.4.1901), der vor seiner Emigration im Transportgeschäft seines Vaters in der Burgstraße 75 tätig gewesen war, seine Frau Erna (*9.6.1908) und der kleine Sohn Ralf (*16.6.1936) wurden 1944 aus den Niederlanden nach Auschwitz deportiert. Der 83-jährige Hermann Kan (*29.8.1861) wurde noch am 4. September 1944 nach Theresienstadt deportiert und ist dort am 15. Januar 1945 umgekommen.40
Überlebende
Die in Godesberg verbliebenen Juden, die durch Ehe mit einem Nichtjuden vor Deportation geschützt waren, blieben bis September 1944 relativ unbehelligt. Die meisten von ihnen lebten in einer "privilegierten Mischehe", d.h. sie hatten Kinder, und niemand in der Familie bekannte sich zum jüdischen Glauben. "Privilegiert" bedeutete auch, vom Zwang befreit zu sein, den seit September 1941 obligatorischen gelben "Judenstern" zu tragen. Auf einem Ende 1941 von der Stadtverwaltung erstellten Verzeichnis der in Bad Godesberg gemeldeten Juden sind zwölf Personen aufgeführt, die in einer "Mischehe" lebten.41 Am 12. September 1944 wurden die in "Mischehe" lebenden Juden zur Gestapo in den Bonner Kreuzbergweg bestellt, dort festgenommen und nach Köln-Müngersdorf gebracht. Von dort aus wurden sie in Arbeitslager meist in Hessen verschleppt. Mehrere nichtjüdische Ehepartner erhielten ein Aufenthaltsverbot für das Rheinland. Ob alle in "Mischehe" lebenden Godesberger von dieser Aktion der Gestapo betroffen waren, ist nicht bekannt. Rosa Kurtz, eine 59-jährige Fabrikantenwitwe, durchlief mehrere Lager wie z.B. Kassel-Bettenhausen und Hessisch Lichtenau. In Kassel wurde sie am 3. Dezember von ihrer Tochter befreit und überstand den Krieg im Oberbergischen.42 Ein ähnliches Schicksal erlebte Johanna Bauer, die mit dem Schneider Andreas Bauer verheiratete Tochter von Rosa Rosenthal: Auch sie war in mehreren Lagern in Hessen und konnte am 12. März 1945 in Kassel mit Hilfe ihres Ehemannes fliehen.43 So viel Glück sollte Bertha Schlauß (*1.6.1874), Ehefrau des Mehlemer Schreiners Theodor Schlauß, nicht haben: Die alte Frau wurde von Köln-Müngersdorf angeblich ins Lager Hundswinkel bei Hagen gebracht und ist seither verschollen.44
Dr. Schreiber war am 12. September 1944 wegen Krankheit von der Verhaftung verschont worden. Ihm war klar, dass diese Schonung nur einen Aufschub bedeutete, und er beschloss unterzutauchen. Seine Frau Paula besorgte ihm am 18. September bei den Schwestern Böhm in der Finkelnburgstraße 4 ein Versteck. Einen Tag später gab sie bei der Polizei eine Vermisstenanzeige auf: Ihr Mann habe sich "heute in den frühen Morgenstunden unbemerkt aus der Wohnung entfernt ... Anzug und Schuhe fehlen ... Dies fiel mir umso mehr auf, weil mein Mann in den letzten 3 Jahren das Haus nicht mehr verlassen und daher keinen Anzug getragen hat. Ich vermute, daß mein Mann sich ein Leid angetan hat. Er war Nichtarier. Infolge der Verhältnisse war mein Mann öfter schwermütig, er hat sich auch geäußert, er könne das nicht mehr ertragen." Das Täuschungsmanöver gelang: Versteckt in einer unbeheizbaren Mansarde überstand Dr. Schreiber von der Nachbarschaft unbemerkt die Monate bis zum Einmarsch der US-Army.45
Ganz in der Nähe, in der Rüngsdorfer Straße, überlebte ebenfalls in der Illegalität eine junge Frau den Judenmord: Die Münsteranerin Henriette (Hanny) Hertz (*14.8.1913) wohnte unter der falschen Identität als "Hanne Halm" seit Sommer 1942 in Bad Godesberg. Als sie Ende 1941 von Münster nach Riga deportiert werden sollte, beschloss sie untertauchen. Nichtjüdische Verwandte aus Köln besorgten ihr zunächst dort eine Zufluchtsstätte. Nach einem halben Jahr musste sie ihr Quartier in Köln aufgeben. Durch die Vermittlung eines Freundes der Familie fand sie als angeblich Bombengeschädigte eine Unterkunft in Bad Godesberg, wo sie bereits schon einmal bis Sommer 1941 gewohnt hatte. Trotz des damit verbundenen Risikos nahm sie eine Arbeit als Näherin in einem Bonner Geschäft für Kinderbekleidung an. Ein gefälschter Straßenbahnausweis war zunächst ihr einziges Ausweisdokument. Eine Tante aus Wuppertal brachte ihr regelmäßig Abschnitte von Lebensmittelkarten, die sie von Freunden gesammelt hatte. Hanny Herz wollte vermeiden, durch Zurückgezogenheit das Interesse ihrer Umgebung zu wecken. Sie führte das "normales" Leben einer jungen Frau, ging regelmäßig aus und verkehrte sogar mit Angehörigen der SS.46
Gedenken
Nach dem Krieg tat man sich in Bad Godesberg lange Zeit schwer im Umgang mit den ermordeten und vertriebenen Mitbürgern. Vergessen und verschweigen hieß die Devise. Symptomatisch das Antwortschreiben der Stadtverwaltung 1960 auf eine Anfrage der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem nach dem Schicksal der Godesberger Juden: "Für die Jahre 1940-1944 sind hier keine Todesfälle von Einwohnern jüdischen Glaubens verzeichnet. Ob in diesem Zeitraum im Einzelfall oder gruppenweise solche Einwohner deportiert wurden, konnte nicht ermittelt werden. Aufzeichnungen darüber sind nicht vorhanden. Personen, die eventuell darüber Auskunft geben könnten, sind nicht mehr hier tätig bezw. tot."47
1985 wurde eine Gedenktafel für die beim Pogrom 1938 zerstörte Synagoge in der Oststraße angebracht. Seit September 1998 erinnert ein Gedenkstein auf dem jüdischen Teil des Burgfriedhofes an die Opfer des Holocausts. Anstoß dazu gab 1996 eine Bitte von Harry Kley: "Zu meiner Lebenszeit, ich bin heute fast 75 Jahre alt, hätte ich gerne eine Gedenktafel mit allen Namen der in von Godesberg Umgekommenen an einer passenden Stelle gesehen, damit die Gemeinde nicht ganz vergessen wird und dass ich vielleicht ein Gebet für sie sagen kann."48 Auf dem Stein werden allerdings keine Namen der Opfer aufgeführt. Seit 2002 werden auch in Bad Godesberg "Stolpersteine" verlegt, die vor den früheren Wohnstätten an Namen und Lebensdaten der - zumeist jüdischen - Opfer der NS-Zeit erinnern. Begleitend dazu erscheint in den "Godesberger Heimatblättern" eine Artikelserie, in der es Stadtarchivar Norbert Schloßmacher gelingt, aus den wenigen überlieferten Informationen Lebensbilder der verfolgten Mitbürger zu erstellen. Es ist zu hoffen, dass nun - mehr als 65 Jahre nach ihrem Tod - die Opfer auch als Individuen ihren angemessenen Platz in der Erinnerungskultur von Bad Godesberg finden werden.
Erhard Stang
Quellenhinweis:
Der Artikel basiert vor allem auf der Auswertung der im Bonner Stadtarchiv überlieferten Godesberger Meldeunterlagen. Informationen über die Schicksale der Deportierten stammen aus den Online-Datenbanken von Yad Vashem und des Bundesarchivs.
Anmerkungen:
1 Zahlen u.a. bei Hans Kleinpass: Zur Geschichte der ehemaligen Synagogen in Godesberg und Mehlem. In: GHBl. 25, S. 154f. Neben "Volljuden" wurden auch "Mischlinge" entsprechend der Anzahl ihrer "volljüdischen" Großeltern erfasst: Bei den "Mischlingen 1. Grades" (zwei Großeltern) zählte man die vergleichsweise hohe Zahl von 28 Personen, bei den "Mischlingen 2. Grades" (ein Großelternteil) 34 Personen. Auf ihr Schicksal kann im Rahmen dieses Artikels nicht näher eingegangen werden. Auch "Mischlinge" unterlagen einer Sonder-Gesetzgebung. So wurde z.B. ein Bad Godesberger Friseur, der als"Mischling ersten Grades" der "Rassenschande" mit einer "Arierin" beschuldigt wurde, im Februar 1941 ins KZ Buchenwald verschleppt, wo er bis zur Befreiung des Lagers mehr als vier Jahre inhaftiert war.
2 Die vom Verfasser aus den Einwohnermeldelisten ermittelten Zahlen (55 bzw.19) weichen geringfügig von denen der Volkszählung ab.
3 So verstarb z.B. Dr. Hans Rosenberg im Alter von 51 Jahren offenbar an mangelnder medizinischer Betreuung (vgl. Helmut Moll: Der Friesdorfer Pädagogik-Professor Hans Karl Rosenberg - von den Nationalsozialisten seelisch zermürbt. In GHBl. 36, S. 66). In welchem Umfang es unter den zwischen 1933 und 1945 in Bad Godesberg verstorbenen Juden zu Selbsttötungen gekommen ist, konnte nicht definitiv festgestellt werden.
4 StA Bonn GO 1341 Synagogengemeinde Godesberg-Mehlem 1888-1935.
5 Gedenkstätte Bonn, Interview Kley
6 StA Bonn GO 1340. Zwei Antwortschreiben aus Prag und aus Kairo, in denen die Briefe "als von der Obrigkeit beziehungsweise von der begreiflichen Furcht vor der Obrigkeit diktiert" bezeichnet und antijüdische Übergriffe in Deutschland aufgelistet werden, zeigen, dass man im Ausland offenbar besser informiert war als in Bad Godesberg.
7 Zum Tod von Josef Levy vgl. den Beitrag von Wilhelm Bleek und Horst-Pierre Bothien im GA v. 27.8.1997.
8 StA Bonn GO 1341.
9 StA Bonn GO 1910.
10 Gedenkstätte Bonn, Interview Weil.
11 Informationen von Horst-Pierre Bothien (Stadtmuseum Bonn), dem ich an dieser Stelle auch für weitere Hinweise danken möchte; StA Bonn GO 621Kreiswohlfahrtsamt 1931-1935.
12 Die Rosenbergs zahlten z.B. keine Kultussteuern an die Synagogengemeinde (StA Bonn GO 1341 Heumann an Bürgermeister 23.20.1928).
13 Kleinpass, S. 163
14 Kleinpass, S. 171
15 Dr. med. Arthur Samuel: Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933. In: Bonner Geschichtsblätter 49/50, S. 418-425.
16 Bundesarchiv, Gedenkbuch.
17 Gedenkstätte Bonn, PB 3 Adler.
18 StA Bonn N 1985/ 848 (Kaczka).
19 StA Bonn GO 6507. Bürgermeister Alef an Landrat, 9.2.1939; Aktennotiz 24.6.1939.
19a StA Bonn N 1985/ 1148 (Schreiber).
20 StA Bonn GO 1339. Aktennotiz vom 22.6.1939.
21 StA Bonn GO 270. Schreiben von Alef an alle Abteilungen 10.6.1939. Anlass hierfür war vermutlich der Zuzug einer in "Mischehe" lebenden Jüdin, die nach zwei Monaten wieder wegzog.
22 StA Bonn GO 1339. Alef an den Kölner Regierungspräsidenten, 4.7.1939.
23 ebda. Kölner Synagogengemeinde, 10.10.1939; Aktenvermerk Alef, 12.10.1939; Mietvertrag, Eingangsstempel 6.12.1939.
24 StA Bonn GO 1339. Luise Unger an Stadtverwaltung Bad Godesberg, 29.6.1939.
25 Gedenkstätte Bonn PB 124 Klee. Max Klee an Familie Dahl (USA), 28.7.1941.
26 StA Bonn N 1985/ 624 Bauer.
27 Bundesarchiv, Gedenkbuch.
28 Dieter Corbach: 6.00 Uhr ab Messe Köln-Deutz, Köln 1999, S. 29-32,49.
29 Corbach S. 133-142. Für diesen Zug ist keine Transportliste überliefert. Die Namen der Deportierten wurden aus den Angaben in den Melderegistern rekonstruiert.
30 Bundesarchiv Koblenz, Gedenkbuch.
31 Interview Weil.
32 Bundesarchiv, Gedenkbuch und Yad Vashem, Martyrs Database.
33 StA Bonn GO 6507
34 Gedenkstätte Bonn, PB 3 Adler
35 Corbach S. 157-171.
36 Bundesarchiv, Gedenkbuch.
37 Interview Kley.
38 StA Bonn N 1985/ 683 Dardenne.
39 Interview Weil.
40 Bundesarchiv, Gedenkbuch.
41 StA Bonn GO 1338
42 StA Bonn N 1985/ 910 Kurtz
43 StA Bonn N 1985/ 624 Bauer
44 StA Bonn N 1985/ 1116 Schlauss
45 StA Bonn N 1985/ 1148 Schreiber. Vgl. auch: Jürgen Küpper: Jüdische Schicksale in Bad Godesberg 1933-1945, in: Godesberger Heimatblätter Heft 33, S. 5-11
46 Karin Wissmann: Überleben in der "Höhle des Löwen" In: Die Kriegsjahre in Deutschland 1939 bis 1945, hrsg. v. Dieter Galinski und Wolf Schmidt, Hamburg 1985, S. 215-27
47 StA Bonn GO 8667 Stadtverwaltung Bad Godesberg an Yad Vashem, 24.9.1960.
48 Gedenkstätte Bonn, PB 124 Klee. Harry Kley an Verein An der Synagoge, 13.9.1996.